Clive Arrowsmith: “Die Fotografie ist meine Amour fou”

Der legendäre Fotograf Clive Arrowsmith gilt seit Jahrzehnten als feste Größe in der Mode- und Musikwelt. Sein Werk vermittelt einen eindrucksvollen Einblick in eine bemerkenswerte Zeit des Wandels.

Clive Arrowsmith gilt als ultimativer Zeitzeuge des goldenen Zeitalters der Mode und Musik in den 1960er, 1970er und 1980er Jahren. So dokumentierte er nicht nur die Exzesse dieser Zeit, sondern spielte in einigen von ihnen auch die Hauptrolle. Seine Bilder dieser Ära zeugen von seiner Nähe zu einigen der führenden Protagonisten dieser Zeit. Sein Werk gewährt uns einzigartige Einblicke in diese Epoche.

Einige der größten Popstars und Berühmtheiten dieser Tage waren nicht nur Protagonisten seiner Aufnahmen, sondern persönliche Freunde. Die von ihm bevorzugte Hasselblad war Zeuge dieser einzigartigen Begegnungen und ermöglicht uns einen privilegierten Blick auf das Leben derer, die diese außergewöhnlichen Zeiten maßgeblich prägten.

© Yoko Ono by Clive Arrowsmith

Jetzt hat Clive Arrowsmith einige seiner besten Aufnahmen aus dem Archiv geholt und lässt sie uns in seinem neuesten Buch wiederentdecken. Zudem gewährt er uns tiefe Einblicke in seine faszinierenden persönlichen Aufzeichnungen, die die Geschichte jedes einzelnen Shootings erzählen. Der faszinierende und originelle Fotoband trägt den Titel „Arrowsmith: Fashion, Beauty and Portraits“.

„Eigentlich wollte ich zunächst Künstler werden“, erinnert sich Clive Arrowsmith. „Zunächst habe ich ein Grundstudium in Malerei und Design an der Queensferry Art School absolviert. Doch an den Wochenenden zog es mich immer nach Liverpool, wo sich für mich der Nabel der Welt befand. So lernte ich in einem Pub der Kunsthochschule namens ‘The Crack’ Stuart Sutcliffe [den ursprünglichen Bassisten der Beatles] kennen. Als er hörte, dass ich keine Bleibe hatte, bot er mir einen Schlafplatz in einem besetzten Haus gegenüber der Kathedrale von Liverpool an, die er mit John Lennon, Paul McCartney und George Harrison teilte. Zu dieser Zeit waren die Vier als The Quarrymen bekannt. Schließlich lernte ich einen nach dem anderen von ihnen kennen.”

Queensferry verließ er mit einem Stipendium für das Kingston College of Art in der Tasche, um Malerei, Illustration und Grafikdesign zu studieren.  Bereits nach kurzer Zeit, in der er sich ausschließlich der Malerei gewidmet hatte, merkte er, dass er davon nicht leben konnte. Also heuerte er als Art Director bei der legendären LWT-Musikshow von Rediffusion Television an: Ready, Steady, Go.

Hier entdeckte er erstmals seine große Leidenschaft für die Fotografie und machte Aufnahmen im Backstage-Bereich, wo sich die Popstars der sechziger Jahre die Klinke in die Hand gaben.

„Zu der Zeit hatte die Beatlemania ihren Zenit erreicht“, erinnert sich Clive Arrowsmith. „Oft habe ich meinen Kollegen erzählt, dass ich die vier Pilzköpfe gut kenne. Keiner wollte mir Glauben schenken. Schließlich gaben die Beatles ihr Debüt in der Show. Als Paul McCartney ins Studio kam, sprach ihn eine der persönlichen Assistentinnen an und deutete auf mich: ‘Er behauptet, dass er dich kennt.’ Paul sah zu mir und rief: ‘Spike (mein Spitzname), was machst du denn hier?’ Sogleich bestand er darauf, dass ich ihn in die Umkleidekabine begleite, wo sich John, Paul, George und Ringo gerade entspannten. Nach der Show sind wir zusammen losgezogen. Als wir sie dann ins Hotel zurückgebracht hatten, wurden mir von den draußen wartenden Fans alle Knöpfe von der Kleidung abgerissen.“

© Paul McCartney by Clive Arrowsmith

Die Wahl der Kamera:

Mit seiner wachsenden Leidenschaft für die Fotografie entwickelte Clive auch ein immer stärkeres Gespür dafür, welche Kamera er für seine Ambitionen benötigte. Es musste eine Hasselblad sein. „Für mich gab es schlichtweg keine Alternative“, erklärt er. „In einem Londoner Fotogeschäft in The Strand hatte ich eine gebrauchte Hasselblad im Schaufenster entdeckt. Drei Monate schlich ich daran vorbei, bis ich die Anzahlung dafür zusammengekratzt hatte. Das restliche Geld zusammenzubekommen, war ein harter Kampf. Doch für mich gab es schlicht und ergreifend kein besseres Werkzeug und die Kamera bereitete mir viel Freude. Ich habe sie regelrecht geliebt und besitze sie noch heute.

„Die Qualität der Negative war außergewöhnlich: Schaue ich mir heute einige meiner frühen Arbeiten an, die ich mit feinkörnigem Kodak ISO 32 Panatomic-X-Film aufgenommen habe, beeindruckt mich die Detailgenauigkeit immer wieder aufs Neue. Nehmen wir z.B. das Foto von Dame Sybil Thorndike. Darauf ist jede einzelne Falte und Runzel zu erkennen. Damals habe ich die ganze Nacht in meiner Dunkelkammer verbracht und drei Kisten Fotopapier für die Belichtung und Entwicklung verbraucht, um exakt den gewünschten Abzug in der Hand zu halten.”

Genau wie alle anderen fotografischen Techniken hat sich Clive Arrowsmith das Anfertigen von Abzügen autodidaktisch angeeignet. Sage und schreibe sechs Monate hat er im Anschluss an die Show Ready, Steady, Gonächtelang in der Dunkelkammer des Studios gewerkelt, bis er den ultimativen Dreh heraushatte.

Mit seinem speziellen Ansatz brachte er das Regelwerk der Fotografie ins Wanken. Keiner hatte ihm den fotografischen Kanon gelehrt. Die gewünschten Ergebnisse – sofern dies möglich ist – auf Anhieb mit der Kamera zu erzielen, zählte bereits zu seinen Stärken, als an Photoshop und die trickreiche Nachbearbeitung per Mausklick noch nicht zu denken war.

„Meine Zeit als Maler hat mich alles Notwendige gelehrt, was ich über die Fotografie wissen musste“, meint Clive Arrowsmith. „So habe ich einmal drei Hasselblads auf verschiedene Elemente fokussieren lassen, und zwar alle vor einem schwarzem Hintergrund. Dann habe ich dreifach belichtet, indem ich jedes einzelne Objekt separat aufnahm, ohne den Film weiterzuspulen. Stattdessen habe ich die Kassette herausgenommen und in der nächsten Kamera belichtet. Diesen Vorgang habe ich immer wiederholt und mithilfe von Polaroids überprüft. Ich habe einen ganzen Tag gebraucht, um den gewünschten Montage-Effekt zu erzielen. Kein anderer Fotograf dieser Zeit hat so gearbeitet. Mir erschien dieses Vorgehen aber völlig logisch.

© Mick Jagger by Clive Arrowsmith

„Außerdem habe ich meine Hasselblad mit einem 150-mm-Objektiv versehen, mich auf den Boden gelegt und mein Subjekt von unten aufgenommen, um es größer und eleganter erscheinen zu lassen. Auch das entsprach in keinster Weise der herkömmlichen Vorgehensweise. Dass ich nie als Assistent gearbeitet habe, hat mir bei diesem Ansatz geholfen. Niemand hatte mir je vorgeschrieben, was ich zu tun oder zu lassen habe. Außerdem war ich einfach zu eigenwillig und eigensinnig, um auf andere zu hören. So habe ich zunächst 1000 Dinge falsch gemacht, bevor mir etwas gelang.”

Seine ersten Modeerfahrungen sammelte er bei den Modenschauen des Royal College of Art. Danach begann er, für das legendäre Sechziger Jahre-Magazin Nova zu arbeiten, bei dem ihn sein erster Auftrag nach Nordengland führte, um die berühmten „Streichholzmännchen“ von L. S. Lowry zu fotografieren.

© Sammy Davis, Jr. by Clive Arrowsmith

Im Zuge dessen begann er sich stärker auf die Modefotografie zu konzentrieren und arbeite für Harpers & Queen.

Sein Wechsel zur englischen Ausgabe der „Vogue“ im Jahr 1970 ergab sich aus einem für Clive Arrowsmith typischen glücklichen Umstand. Barney Wan (der damalige Art Director des Magazins) und Grace Coddington (die Moderedakteurin) hatten ihn in seinem Haus in Kensington besucht, um sich Bilder und Zeichnungen anzusehen.

Bereits am nächsten Tag meldete sich die Sekretärin der Redakteurin bei ihm, um seine künftige Karriere bei der „Vogue“ zu besprechen. Diesen Sprung ins kalte Wasser hat er nicht nur überlebt, er ist sogar daran gewachsen. Seitdem zierten viele seiner Mode-, Schönheits- und Porträtaufnahmen die Titelseiten.

© Bianca Jagger by Clive Arrowsmith

Der Weg zum richtigen Look

In einer Zeit mit einer Mittelformatkamera zu arbeiten, in der eine entspannte Modefotografie den biederen und tradierten Stil der Vogue abzulösen begann, mag für einige Fotografen eine besondere Herausforderung gewesen sein. Clive Arrowsmith wandelte die Umstände in einen persönlichen Triumph um, indem er seine Hasselblad einfach wie eine Vollformatkamera verwendete. Er fotografierte ohne Stativ, ermunterte die Models wie z.B. seine langjährige Muse Ann Schaufuss, zu springen, zu tanzen und sich zu bewegen. Er folgte ihnen bei diesen Bewegungen und kreierte einen aufregenden neuen Look im perfekten Einklang mit der Zeit.

© Donna Mitchel Paris Collection by Clive Arrowsmith

„Ich konnte den Film schneller weiterspulen als die meisten Motorantriebe“, erinnert er sich. „Ein Assistent bereitete mir die Rückteile vor, damit ich den Film schnell wechseln und mit dem Fotografieren fortfahren konnte. Später habe ich mir einige 220er Rückteile zugelegt. Sie erlaubten mir 24 Belichtungen auf einem 220er Film. So konnte ich noch länger arbeiten, bevor ich die Rückteile wechseln musste. Dabei galt es jedoch, sehr sorgfältig zu arbeiten, um alles richtig einzulegen. Einmal habe ich deswegen sogar ein echtes Problem bekommen. Als ich für Yves Saint Laurent fotografierte, zählte sein Agent mit, wie häufig ich den Auslöser betätigt habe. Dann beschuldigte er mich, keinen Film in der Kamera zu haben. Er konnte einfach nicht glauben, dass ich immer noch auslösen konnte!”

© French Vogue by Clive Arrowsmith

Seine außergewöhnliche Karriere ist eine Aneinanderreihung unzähliger Höhepunkte. Als er Aufnahmen für das Cover des Wings-Studioalbums „Band on the Run“ machte, wäre dies beinahe gründlich schiefgegangen. Clive Arrowsmith hatte schlicht und einfach das falsche Filmmaterial erwischt. Aber er ist auch der einzige Fotograf, der zwei Jahre hintereinander für den weltberühmten Pirelli-Kalender fotografierte. Bei diesen Aufträgen stellte Clive Arrowsmith sein Querdenkertum erneut unter Beweis. Er entschied sich, ein riesiges Lichtzelt mit einem Gerüst zu verwenden, das das Set von drei Seiten umgab. Die Vorder- und Rückseite ließ er offen.

© Harvey Nichols advert by Clive Arrowsmith

„Auf die Band sollte kein natürliches Licht fallen“, erläutert er sein damaliges Vorgehen. „Ich wollte meinen eigenen Blitz verwenden, um die Umgebung durch die Studiostruktur natürlich zu beleuchten. Gleichzeitig wollte ich den Lichteinfall auf die Band kontrollieren. Für die Beleuchtung verwendeten wir einen mobilen Generator. So konnten wir auch weit entfernte Orte bereisen. Wir waren mit Unmengen an Requisiten unterwegs, die uns das Royal Opera House angefertigt hatte.”

Sich im Zentrum einer solch spektakulären Ära des Wandels zu befinden – das gibt Clive unumwunden zu – bleibt nicht ohne Folgen.

© Yves Saint Laurent by Clive Arrowsmith

Clive Arrowsmith hat ein aufregendes Leben geführt und dabei so gut wie nichts ausgelassen. Er hat viermal geheiratet und ist Vater von sieben Kindern. Sein ausschweifendes Leben als Partygänger endete, als er sich ernsthafter mit dem Buddhismus zu beschäftigen begann. Es war George Harrison, der ihm den Hinduismus, die Meditation und die indische Musik zuerst nahebrachte.

An diesem Leben hält er bis heute unumstößlich fest. Regelmäßig fotografiert er den Dalai Lama und andere Persönlichkeiten des Buddhismus wie z.B. seinen Lehrer Khyongla Rato Rinpoche, den er als „wichtigsten Mann in meinem Leben” beschreibt. Seinen Glauben lebt er mit Aufrichtigkeit und Nachdruck, verzichtet seither auf Alkohol und Zigaretten und hat sein ganzes Leben umgekrempelt.

© Liv Tyler by Clive Arrowsmith

„Arrowsmith: Fashion, Beauty and Portraits“ ist eine opulente und auserlesene Sammlung bemerkenswerter Aufnahmen, die die gesamte Skala eines bemerkenswerten Lebens umreißt. Das Werk stößt auf begeisterte Kritiken, darunter im New York Review of Books, die Clive Arrowsmith mit Avedon, Mapplethorpe und Ritts verglich.

Derzeit arbeitet er an seinem zweiten Buch, das im Laufe des Jahres veröffentlicht werden soll. Clive Arrowsmith denkt keineswegs an den Ruhestand und eine Abkehr von seiner „Amour fou“. Er sucht weiterhin nach der perfekten Aufnahme, von der er weiß, dass er sie nie machen wird. „Es gibt immer etwas, das ich noch besser hätte machen können“, so Clive Arrowsmith. „Kein Foto wird dieses Ideal je erreichen. Sollte mir jemals die perfekte Aufnahme gelingen, wäre das Ende meiner Leidenschaft besiegelt und ich müsste die Fotografie aufgeben. Schließlich würde mir nie wieder eine solche Aufnahme gelingen. Doch dazu wird es wohl nie kommen.“

© Jeremy Irons by Clive Arrowsmith

Dieser Artikel ist ursprünglich auf www.hasselblad.com erschienen.

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